Wer den durch Europa reisenden Joe Biden und seine Motive besser verstehen will, darf ihn nicht mit den Augen des politischen Betrachters begutachten, sondern sollte (ausnahmsweise) die Brille von Karl Marx aufsetzen.

Dessen Theorie von Basis und Überbau erzählt von der Wechselwirkung zwischen wirtschaftlicher Existenzgrundlage und politischen Interessen. Die Moral ist demnach ein Derivat der Ökonomie. Das Diktum von Marx: „Nicht das Bewusstsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewusstsein.“ Wer also Bidens ethisch grundierte Forderungen an Deutsche und Russen (baut keine gemeinsame Gaspipeline) und Chinesen (teilt endlich unsere westlichen Werte) mit den knallharten ökonomischen Interessen der USA abgleicht, wird schnell feststellen: Biden sagt Freiheit und meint amerikanisches Schiefergas. Er postuliert die Menschenrechte und träumt von einem saftigen Exportüberschuss. Er spricht von „der Gemeinschaft des Westens“ und im Hintergrund hört man den Kaufmanns-Chor, der leise „America First“ anstimmt. Kurz und gut: Um den neuen amerikanischen Präsidenten zu verstehen, kann an dieser Stelle ein wenig Lesehilfe nicht schaden: Der Widerstand gegen die Gaspipeline von Russland nach Lubmin bei Greifswald in Mecklenburg-Vorpommern wurde von Trump eröffnet und Biden führt ihn fort. Nord Stream 2 sei „ein schlechter Deal für Europa”, sagt der neue Präsident im Ton des alten. Das Ziel Putins sei es, „Europa zu spalten und Europas Energiesicherheit zu schwächen“. Was Biden in Wahrheit sagen will, ist das Folgende: Die Amerikaner sind mit viel Aufwand zur größten Öl-Fördernation der Welt aufgestiegen. Jetzt wäre es doch schön, wenn einer diese guten, weil demokratisch explorierten Rohstoffe kaufen würde. Das politisch unkorrekte Russen-Gas könnten die Deutschen guten Gewissens abbestellen.

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